ARD-Hörspieldatenbank

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Ars acustica


Musiktriennale Köln 2004


Mauricio Kagel

Vorzeitiger Schlussverkauf. Unvollendete Memoiren eines Toningenieurs


Komposition: Mauricio Kagel


Regie: Nadja Reipschläger

Zur Musiktriennale Köln 2004 präsentiert Mauricio Kagel ein neues selbstreflexives Radiostück. Darüber schreibt er: "Als ich das umfangreiche Paket erhielt, konnte ich dieses nur mit Hilfe des Postboten über die Türschwelle tragen. Das ungewöhnliche Gewicht des Sperrgutes überraschte mich, aber nicht weniger erstaunt war ich, als ich darin nur lose Tonbänder auf alten, kleinen Plastikspulen vorfand, einer Aufzeichnungsform, die mir heute vorkommt, als sei sie ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert. Dünne Staubschichten legten sich bald wie feine Schleier auf meine Brillengläser; typischer Modergeruch nach feuchtem Keller oder Speicher war vernehmbar, ebenso fielen übergroße Fingerabdrücke auf Teilen der Sendung auf. Da kein Brief beilag, schaute ich nach dem Absender auf dem amtlichen Formular. Der Name war mir nicht geläufig. Ich begann nun, die Tonbänder, die mit 9,5 cm/s (!) abgespielt werden mussten, abzuhören. Die Stimme des Mannes, der ausschließlich aus seinen professionellen Erfahrungen als Toningenieur erzählte, verriet eine norddeutsche Herkunft. Obwohl ich in linguistischen Kartierungen nicht bewandert bin, vermutete ich eine Sprachmelodie aus Hamburg oder Umgebung. Nach einigen Stunden war ich von manchen Schilderungen und der präzisen Beschreibung von Situationen und Zusammenhängen so gefesselt, dass ich beschloss, umgehend an den Adressaten zu schreiben. Einige Tage später erhielt ich meinen Brief zurück, versehen mit dem Abdruck eines großen Stempels und drei darin angekreuzten Stellen: "Zustellung unmöglich" (Name des Empfängers und Straße unbekannt, Postleitzahl unrichtig). Warum eine solche Anhäufung offensichtlich falscher Angaben? Sollte eine Auffindung der Person, die hinter dieser Stimme steckte, ausgeschlossen sein? Diese Vermutungen trafen zu. Wäre mir nicht vieles wegen der Thematik des mündlichen Berichtes so bekannt vorgekommen, hätte ich mich mit Sicherheit weniger hartnäckig verhalten. Aber: Nachdem ich selbst viele Monate meines Lebens in Räumen ohne Tageslicht verbracht hatte, umgeben von Reglern, Knöpfen, Tastaturen, Potenziometern sowie schwarzen und silbergrauen Gerätefronten, war meine Neugierde noch größer geworden. Der Toningenieur erzählte ausschließlich von der Zusammenarbeit mit nur einem Komponisten, dessen Name aber in keinem der Tondokumente erwähnt wurde. Ich begann, einigen meiner Kollegen und auch Toningenieuren anderer Rundfunkanstalten diese Bänder vorzuführen, in der Hoffnung, Konkretes zu erfahren. Manche Leute äußerten vage Vermutungen, andere baten mich, manche Abschnitte mehrmals abzuspielen; während meine Spannung fast unerträglich wurde, strickten sie lediglich an wilden Spekulationen und nicht prüfbaren Erkenntnissen. An Phantasie fehlte es freilich nicht, wohl aber an brauchbaren Hinweisen. Wer war der namenlose Komponist, an dem ich so viele verwandte Facetten und Charakteristisches meines Berufes wiedererkannte? Wozu diese methodische Geheimnistuerei? Was sollte verschwiegen werden? Mittlerweile bin ich nicht mehr zuversichtlich, zumindest eine von beiden Personen zu identifizieren. Ihre Stimmen werden zwar anonym bleiben, aber als Trost für diese Wissenslücke habe ich diese Musikzuspielungen erhalten, sie sind mir inzwischen ans Herz gewachsen. Wiederholtes Hören tut allemal gut, wenn man tatsächlich mit Zuneigung dabei ist. Ich reiche hiermit meine seltsamen Erlebnisse weiter. Können Sie mir, geschätzte Leser und Zuhörer, helfen, dies alles zu enträtseln?"

Mauricio Kagel, geboren 1931, ist in Buenos Aires aufgewachsen, wo er erste künstlerische Aktivitäten entwickelte. Seit 1957 lebt er in Köln. Er ist einer der bedeutendsten und vielseitigsten zeitgenössischen Komponisten. Das Schaffen des intermedialen Künstlers hat in Theorie und Praxis nachhaltigen Einfluss auf künstlerische Entwicklungen in den Bereichen neue Musik, Musiktheater, Film, Hörspiel, Performance und akustische Kunst. In den 60er Jahren begründete Kagel das instrumentale Theater, das, wie in seinem Werk "Staatstheater", durch ungewöhnliche Instrumentalisierung der Klangbereiche, der Bewegung des Lichts und Szenographie neue Dimensionen der Darstellung erschloss. Zahlreiche Vortrags- und Konzertreisen führten ihn durch Europa, nach Asien sowie Nord- und Südamerika. Umfangreiche Zyklen und Retrospektiven seiner Kompositionen, Filme und Hörstücke, in denen er zuweilen auch als Darsteller agierte, dokumentierten das breite Spektrum seines mit zahlreichen Ehrungen ausgezeichneten künstlerischen Schaffens. In dem breiten Spektrum seiner Werke manifestiert sich der Bruch mit jedwedem Akademismus, gleichzeitig aber auch eine enge Beziehung zur Tradition, insbesondere der deutschen. Phantasie, Originalität und Humor zeichnen das Oeuvre dieses multimedialen Künstlers aus. Mit unerschöpflicher Erfindungsgabe bedient sich Kagel der verschiedensten Ausdrucksmittel, die oft bissig und provozierend wirken, jedoch immer im Dienste der musikalischen Intensität stehen. Von 1969 bis 1999 hat Kagel sämtliche (16) seiner Hörstücke und Klangkompositionen für das Studio Akustische Kunst realisiert. Viele davon wurden mit internationalen Preisen ausgezeichnet: Karl-Sczuka-Preis für "Ein Aufnahmezustand" (1970); Prix Italia für "Die Umkehrung Amerikas" (1977), Hörspielpreis der Kriegsblinden für "Der Tribun" (1979), Hörspiel des Monats der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste, Frankfurt, für "... nach einer Lektüre von Orwell" (Mai 1984); Karl-Sczuka-Preis für "Nah und Fern" (1995), ein Werk, das auch als "kubistische" Raumklang-Performance bei der WDR Acustica International 1996 erstaufgeführt wurde. Weitere Werke für das WDR-Studio Akustische Kunst waren: "Soundtrack, ein Filmhörspiel"; "Probe"; "Guten Morgen"; "Mare Nostrum"; "Kleines Ohrganon des Hörspielmachens" (zusammen mit Klaus Schöning); "Cäcilie ausgeplündert. Ein Besuch bei der Heiligen"; "Playback Play. Neues von der Musikmesse".

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Mitwirkende

Sprecher/Sprecherin
Martin Reinke
Mauricio Kagel


 


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Quellen zum Hörspiel - © DRA/Michael Friebel


PRODUKTIONS- UND SENDEDATEN

Westdeutscher Rundfunk 2004

Erstsendung: 15.05.2004 | 23:05 Uhr | 51'47

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