ARD-Hörspieldatenbank


Essay



Eva Meyer

Der Kriegstourist

Essay zu Hermann Brochs Roman "Huguenau oder die Sachlichkeit"


Redaktion: Herbert Kapfer

Technische Realisierung: Fabian Zweck


Realisation: Eva Meyer

"Was geschieht, wenn Werthaltungen nicht mehr von einer Zentralstelle aus geleitet werden und eine Atomisierung der Wertgebiete einsetzt? Entgleitet uns dann jede Form der Ethik und also auch jede wertschaffende Tätigkeit? Werden wir rastlos im Getriebe selbständig gewordener Werte? Sind wir Schlafwandler, die nicht mehr wissen was sie tun? Der Zerfall der Werte kündigt sich in Brochs "Schlafwandlr" in den Figuren des Romantikers Pasenow und des Anarchisten Esch an, um dann -während des 1. Weltkriegs - in der sachlichen Lebenshaltung Huguenaus zu kulminieren. Während Pasenows Zustand noch der einer Sehnsucht ist, die keine Entsprechung in der Wirklichkeit findet, steht Esch schon zwischen dem Wunsch nach einer Ordnung und der Einsicht in ihre Unmöglichkeit. Er wird vom "Kriegstouristen" Huguenau umgebracht, der sich von all diesen Problemen verabschiedet hat und sich den neuen Verhältnissen bestens anpasst: Er kann nämlich Werte wechselnd handhaben und das heißt opportunistisch. Aber die Frage ist: Was geschieht mit den im Wertzerfall freiwerdenden Kräften? Sind sie nur noch Kampfmittel im Streite der einzelnen Wertgebiete? Sind sie nur noch Mittel der gegenseitigen Zerfleischung? Sind sie nur noch Mord? Es sind die jeweiligen Wertgebiete, die aus der Masse des Irrationalen eine Gruppe -guter' irrationaler Kräfte rekrutieren, um mit deren Hilfe den gefürchteten weiteren Zerfall zu hemmen und die eigene Bestandslegitimation zu erbringen. Doch statt seinen Bestand aufrechtzuerhalten, indem es sich selbstgenügsam auf den ihm innewohnenden irrationalen Gefühlswert beruft, muss ein jeweiliges Wertgebiet diese Imitation eines Totalsystems aufgeben. Es muss sich als ein Gebiet unter anderen begreifen, in dem keines sich gegen ein anderes durchsetzen muss und wir es mit einer Vielzahl von unmerklichen und uneinheitlichen Übergängen zwischen Gebieten zu tun bekommen. Die Wirklichkeit zerfällt in ein Gefüge von mehreren Ebenen in mehreren Personen, in eine Pluralität von Stimmen, Räumen, Zeiten, sowie deren Kombinatorik. In allem und jedem kommt es auf das Verhältnis zur Freiheit an. Das gilt auch für einen wie Huguenau, doch gelangt er nicht weiter als bis zur Freiheit des Mords. Deshalb kommt es vor, dass er mit wegwerfender Handbewegung etwas abzutun sucht, über dessen Herkunft er sich keine Rechenschaft geben kann. Nicht zuletzt liegt es wohl daran, dass sich um ihn unmerklich eine Kluft auftut, eine tote Zone des Schweigens. Gewiss haben wir es hier mit dem Aufkommen von Situationen zu tun, zu denen es nur noch zufallsbedingte Beziehungen zu geben scheint und die einen in Zustände versetzen, in denen man nur noch hindämmert und gleichgültig wird. Doch geben sie uns mit der Zeit einen Faden an die Hand, der uns durch eine Vielzahl möglicher Übergänge führt. Was man an Aktion und Reaktion verliert, wenn man in diesen Situationen nicht gleich seinen Vorteil wittert, gewinnt man an Hellhörigkeit. Und hörbar wird die stilbildende Kraft der Zeit." (Eva Meyer)

Eva Meyer, 1950 in Freiburg geboren, ist Autorin. Filme und Hörspiele mit Eran Schaerf.

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Mitwirkende

Sprecher/SprecherinRolle/Funktion
Saskia MallisonA
Christiane RoßbachB


 


Quellen zum Hörspiel - © DRA/Michael Friebel


PRODUKTIONS- UND SENDEDATEN

Bayerischer Rundfunk 2009

Erstsendung: 24.05.2009 | 15:00 Uhr | 44'16

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