ARD-Hörspieldatenbank

Originalhörspiel



Hermann Kretzschmar

Het witte Kind


Komposition: Hermann Kretzschmar

Redaktion: Manfred Hess

Dramaturgie: Manfred Hess

Technische Realisierung: Helmut Becker, André Bouchareb

Regieassistenz: Christoph Müller


Regie: Hermann Kretzschmar

"Mit dem hr2-Hörspiel war 2009 für die nahe Zukunft eine neue Arbeit im Grenzbereich von Ars Acustica, Komposition und Klanginstallation vereinbart worden. Im selben Jahr erhielt ich den Auftrag, für das Festival 'Der offene Garten' des Kunstvereins im niedersächsischen Neuenhaus bei Nordhorn nahe der niederländischen Grenze, dem Ort meiner Kindheit und frühen Jugend, einen künstlerischen Beitrag zu leisten, in dem Heimat und Provinz thematisiert werden. Am Ende des Arbeitsprozesses gab es jedoch nicht zwei Versionen der einen Aufgabenstellung, sondern einzig die vorliegende mediale Umsetzung - als Hörstück wie zugleich kompositorisches Kunstprojekt. Auf der Suche nach einem Stoff erinnerte ich mich an eine Sage, die ich als Zehnjähriger gelesen hatte. Sie entstammte der Anthologie 'Die gläserne Kutsche. Sagen, Erzählungen und Schwänke aus der Grafschaft Bentheim' und war eine der kürzesten Geschichten dieses Bandes. Sie spielte genau an dem Ort, an dem ich aufwuchs, und hieß 'Het Witte Kind van Niynhuus'. Aus der Logik des Materials stellten sich mir die Fragen: Was sind heute Märchen? Gibt es zeitgenössische Sagen? Was sind moderne Fabeln? So begab ich mich auf die Suche nach möglichen klanglichen Anhaltspunkten der Jetztzeit. Zunächst ist 'Het witte Kind' die Beschreibung eines bestimmten Ortes in einer Provinzlandschaft. Die damit verknüpfte Story ist die Geschichte einer schrecklichen Tat und die Sublimierung oder Verwandlung des Schrecklichen in das Naturbild des Nebels. Dabei spiegelt und verknüpft die Textebene der Sage zwei Zeitachsen: Das langsame Aufsteigen des Nebels als Charakteristikum dieser Landschaft und die metaphorische Wandlung des Kindsmordes in ein Naturbild - und vice versa das Naturbild in das längst vergangene, sagenhafte Geschehen eines Kindsmordes. Auf der biographischen Seite korrespondiert die Sage mit einer anderen Wahrnehmungsverschiebung: der radikalen Veränderung des Ortes in den letzten 40 Jahres seit meiner Jugend. Die natürlichen Nebel dieser Wiesenlandschaft sind heute verschwunden, gewichen den neu gebauten Supermärkten mit den akustischen Klangnebeln ihrer Lüftungen, gewichen einer holzverarbeitenden Fabrik mit rumorenden Gabelstaplern und dem permanenten Straßenverkehrslärm. Für dieses konkrete Konglomerat fand ich als musikalische Entsprechung das 'weiße' (da nur Töne der C-Dur Skala verwendende) Bassmarimba. Qua Material verweist es auf die Holzfabrik. C-Dur als Tonart eines Liedes deutet auf Kindlichkeit, Kindheit. Das Element der früheren Zeit greift der in a-Moll gefärbte Schreittanz, eine Pavane, auf, und spielerisch werden auf dem Instrument 'weiße' Nebelschwaden angedeutet. Die bisweilen klappernden Klänge und Geräusche des Holzinstruments Bassmarimba werden wiederrum verändert durch spezielle Spieltechniken, z.B. mit Reibestäben oder auf den Mallets gestrichenen Schlägeln. In Korrespondenz dazu nutze ich so genannte field recordings, die ich durch DJ-Geräte elektronisch bearbeite: Es sind Klänge von Gabelstaplern, Lüftungsklappen, Wasserplatschen und Naturatmos, die ich alle im Umkreis des Ortes der Sage aufgenommen habe und durch die Mittel Stretching und Reverse aufrauhte. Ein weiteres Element sind meine 40 Jahre alten Privataufnahmen auf einem SABA-Tonbandgerät: Sie wurden aus der Enge des damaligen Familienlebens destilliert und indizieren, meist rückwärts abgespielt, als fremdklingende Stimmen eine Ebene der trotz ihrer technischen Reproduzierbarkeit unmittelbaren, kindlichen Vergangenheit an. Einmal nur lasse ich einen O-Ton als authentischen und verstehbaren Nucleus bis auf ein eingebautes repetitives Geräusch unbearbeitet. Auf der textlichen Seite kontrapunktiert die Dramatik der Geschichte ein Gedicht des Heimatdichters Ludwig Sager, das sich ebenfalls auf einen nahegelegenen Ort, den 'Söwenjüffertieskolk' in Neuenhaus bezieht, den zu Hochdeutsch 'Teich der sieben Jungfrauen'. Die Thematik des 'witten Kindes' wurde hier in ein Spukgedicht übertragen. 'Het Witte Kind' ist als Audiomelodram eine Art Heimatstück, das die traditionellen Werte benutzt, die mit Heimat, Herkunft, aber auch den negativen Assoziationen wie Angst, Schmerz und Leiden verbunden sind. Sie werden in ein Klanggebilde der konkreten Abstraktion überführt, dem das Transitorische wesentlich ist. Gerade wo ein Ort mit eigener Geschichte und eigenen Geschichten sich zur nicht unterscheidbaren Ortlosigkeit verändert hat, ist das akustische Medium in der Lage, diesen Prozess zu bezeugen." [Hermann Kretzschmar in einer Produktionsnotiz]

Hermann Kretzschmar, Jahrgang 1958, lebt als Pianist des Ensemble Modern und Komponist in Frankfurt/Main. Daneben realisiert er Hörstücke, so für den hr "Strahlungen. Nach Ernst Jünger" (2004) oder "Harmonies of Paradise. Nach Proust" (2006).

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Mitwirkende

Sprecher/SprecherinRolle/Funktion
Felix von ManteuffelSprecher
Salome KammerStimme

Musik: Rie Watanabe (Bassmarimba)

 

Quellen zum Hörspiel - © DRA/Michael Friebel


PRODUKTIONS- UND SENDEDATEN

Hessischer Rundfunk 2010

Erstsendung: 07.07.2010 | 21:30 Uhr | 21'48


REZENSIONEN

  • Stefan Fischer: Das Sirren der Sägen. Die Provinz als Ort von Ängsten und Sehnsüchten- ein Hörstück. In: Süddeutsche Zeitung, 07.07.2010, S.15
  • Eva-Maria Lenz: Magie de Kindheit. In: epd Medien, 14.07.2010, S.23

Darstellung: