ARD-Hörspieldatenbank

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Ars acustica



Ulrich Bassenge, Bernhard Jugel

sprechmaschinenfest


Komposition: Ulrich Bassenge

Technische Realisierung: Ulrich Bassenge


Realisation: Ulrich Bassenge, Bernhard Jugel

"Ohne Zweifel wäre das eine von den wichtigsten Entdeckungen, wenn man eine Maschine erfünde, die alle Töne unserer Wörter mit allen ihren Artikulationen aussprechen könnte. Die Sache scheint mir nicht unmöglich zu seyn." Leonhard Euler 1768

Alles begann um das Jahr 1000. Papst Sylvester II. hatte einen, genau wie Albertus Magnus. Auch der sprechende brazen head des doctor mirabilis Roger Bacon brachte diesem wie seinen Vorgängern den Vorwurf der Teufelsbündnerei ein. Wenn Blechköpfe sprächen, sei Satan im Spiel, hieß es. Wer die Sprechmaschine baute und totes Blech belebte, versündige sich gegen Gottes Schöpfung, an deren Anfang der logos, das "Wort" steht. Im Barock, der Hochzeit der Poetiken und Enzyklopädien, wagte man sich dennoch an die Erforschung des Phänomens Sprache. Der polyglotte Taubstummenlehrer und Magier Franciscus Mercurius Van Helmont und andere durchdrangen analytisch die Mechanik der Stimme. Schließlich baute der Sekretär der ungarischen Hofkammer in Wien, Baron Wolfgang Farkas von Kempelen, seine berühmte Sprechmaschine, auf welchem Umwege er Einsicht in den "Mechanismus der menschlichen Sprache" gewann, was er auch 1791 dergestalt in einem fast 500seitigen Buch darlegte, dass er nachmals zum Ahnvater der modernen Phonetik wurde. Die ungeschlachten Vokalresonatoren seines Zeitgenossen Christian Gottlieb Kratzenstein übertraf Kempelens Maschine durch die Erzeugung von Konsonanten. Bei Vorführungen versetzte die körperlos krächzende Kinderstimme des Apparates die Audienz in schaudernde Ekstase. Die hohe Zeit der Sprechmaschinen ging indes im 19. Jahrhundert zu Ende. Als ein unendlich trauriger Mann namens Joseph Faber ab 1846 seine Sprachmaschine Euphonia, deren Bau ihn zwanzig Jahre seines Lebens gekostet hatte, in Europa und Amerika vorführte, "ließ die Theilnahme des Publikums Alles zu wünschen übrig", obwohl Euphonia doch in mehreren Sprachen parlierte, "Ehrenbreitstein" und "thwart" sagen und "God save the king" singen konnte. Solche Perfektionierung Kempelenschen Knarzens weckte nur noch das Interesse von Spezialisten, wie des berüchtigten Eugenikers Alexander Graham Bell, der durch eigene Sprechmaschinenexperimente zur Erfindung des Telefons fand. Der Ruch des Magiers haftete der Erforschern künstlicher Sprache an, so auch dem great wizard of the Western world Edison, dessen "Sprechmaschine" eigentlich ein Aufzeichnungsgerät war. Zu Lebzeiten noch wurde Edison zur Hauptfigur des Romans "Die Eva der Zukunft": ein Magus, der eine lebensechte, sprechende Puppe von außerordentlicher Schönheit erschafft. Den Abschied vom antropomorphen Ideal einer Maschine, die die menschliche Stimmarchitektur/apparatur nachahmte, hatte 1768 visionär Leonhard Euler eingeläutet. Er sah eine zukünftige Stimme als eine Art Cembalo oder Stimmorgel voraus, mit Tasten anstelle von Lunge, Stimmritze und Mund. Dessen ungeachtet baute der französische Stimmtherapeut Dr. Marage noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts ein fünfköpfiges Maschinenmonster, dessen Münder die Vokale nachbildeten. Da waren es nur noch 30 Jahre bis zu Homer Dudley. Sein Voder erzeugte erstmalig auf elektrisch-mechanischem Wege Sprache mit Hilfe einer Tastatur. Seit Mitte der Fünfziger Jahre ging die Entwicklung synthetischen Sprechens mit Riesenschritten voran. Eulers und Kempelens Träume manifestierten sich 1980 charmantest in Speak'n'Spell, jenem kleinen Sprechspielzeug, das durch die Gruppe Kraftwerk verewigt wurde. Ein Vierteljahrhundert später geleitet sounddesignter Wohlklang moderner Navigationssysteme mit maschineller Anmut durch Tunnel und Einbahnstraßen. Beim "sprechmaschinenfest" erzählen künstliche Stimmen Geschichten und Geschichte der Sprachsynthese und entfesseln in Testsätzen für Text-to-speech-Programme, in wildgewordener Prosodie und dem elektrischen Sturm der Formanten potentielle Literatur und Lautdichtung. Wenn Stanley Kubricks verrückter Computer HAL ein Liebeslied singt, Dennis Klatt als Sprechmaschinendompteur von Meilenstein zu Meilenstein der Sprachsynthese führt und Roboter aus Professor Lorenz Okens Lehrbuch der Naturphilosophie (1813) zitieren, ist die zutiefst romantische Idee einer robotischen Welt wahr geworden. Die teuflische Faszination vokaloider Apparaturen hält bis heute an. (Ulrich Bassenge)

Ulrich Bassenge, geboren 1956 in München, ist Komponist, Hörspielmacher und Autor. Er schrieb zahlreiche Hörstücke, u.a. "Makrophon" (mit Valeri Scherstjanoi), die die Grenzen zwischen Wort und Musik erforschen. Er arbeitet auch zusammen u.a. mit Embryo, Sparifankal, Le Mystere de Voix Bulgare. Er schrieb die Filmmusiken zu "Die Macht der Bilder - Leni Riefenstahl" und "Living Buddha".

Bernhard Jugel, geboren 1957 in Scheinfeld, lebt in München als Journalist, Moderator und Medienarbeiter. Er führte Regie bei vielen Hörspielen, u.a. bei "Das Radio der Zukunft" (von Velimir Chlebnikow, BR 1995), "Dienstag" (von Helmut Krausser, BR 2000, Hörspiel des Jahres), "Metropolis" (nach Thea von Harbou/Fritz Lang, BR 2001, Hörspiel des Jahres), "Rosa - Die Akte Rosa Peham" (von Thomas Harlan, BR 2001, Hörspiel des Monats April), "Amokkopf" (von Michael Farin, HR 2001), "M - Eine Stadt sucht einen Mörder" (nach Fritz Lang/Thea von Harbou, BR 2003).

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Quellen zum Hörspiel - © DRA/Michael Friebel


PRODUKTIONS- UND SENDEDATEN

Bayerischer Rundfunk 2005

Erstsendung: 26.08.2005 | 62'05


REZENSIONEN

  • Stefan Fischer: Süddeutsche Zeitung. 26.08.2005. S. 16. - Jochen Meißner: Funk-Korrespondenz. 53. Jahrgang. Nr. 35. 02.09.2005. S. 27f.

 

 

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