ARD-Hörspieldatenbank
Originalhörspiel
Klinik
Komposition: Ernst Horn
Technische Realisierung: Wilfried Hauer, Susanne Herzig
Regie: Michael Lentz
Ein Mann rasiert sich. Das Telefon läutet. Eine Frau teilt ihm mit, etwas im Briefkasten hinterlegt zu haben. Sie scheint sich verwählt zu haben. Die Frau ruft wieder an. Sie gibt vor, den Mann zu kennen. Immer wieder ruft sie an. Warum hat er sein Handy nicht ausgeschaltet? Die Frau erzählt von sich. Er hört ihr zu. Sie sagt, sie liebe ihn. Und sie sagt, sie sei seit Wochen in der Psychiatrie. Von sich erzählt der Mann ihr nichts. Sie scheint auch nicht wirklich etwas von ihm wissen zu wollen. Eine Art Phasenverschiebung kommt in Gang. Ruft die Frau einmal nicht an, fehlt sie ihm. Der Mann fühlt sich zunehmend verstrickt. Sie fordert ihn dazu auf, die Welt zu verändern, einmal kräftig aufzuräumen. Phantasien werden ausgetauscht, zumindest im Kopf. Wer ist wo? Gibt es die Frau überhaupt? Würde sie überhaupt zuhören, wenn der Mann mit ihr spräche? Wer nutzt wen aus? Die Verzweiflung der Frau scheint von Tag zu Tag zuzunehmen, immer merkwürdigere Dinge erzählt sie. Der Mann kann nicht lassen, ihr zuzuhören. Sie wird zudringlich, er möchte sie sich vom Leib halten, aber nicht ihre Stimme. Unfreiwillig wird der Mann zum Mitwisser bedrohlicher Vorgänge. Er fühlt sich schuldig - aber wofür? Ist das nicht eigentlich schizophren, dass jemand, der schizophren sein soll, über sich selbst Auskunft gibt, als wäre er ein anderer und seine derzeitige Situation ein einziger verhängnisvoller Irrtum? Oder gehört das bereits zum System? Woher weiß die Frau so viel über den Mann? Wo ist die Grenze, die nicht überschritten werden darf?
Michael Lentz wurde 1964 in Düren geboren. Er ist Autor, Musiker und Interpret experimenteller Texte. Er hat u.a. "Neue Anagramme" (1998),"Muttersterben" (2002, Ingeborg-Bachmann-Preis 2001) und "Liebeserklärung" (2003) veröffentlicht. Der BR sendete seine Hörspiele "Absprache - 5 Sprechakte" (1995), "Muttersterben" (2002) und "Exit" (2005).