ARD-Hörspieldatenbank

Lesung



Raoul Schrott

Die Erfindung der Poesie (4. Teil: Gaius Valerius Catullus)

Gedichte aus den ersten 4000 Jahren


Technische Realisierung: Hans Scheck, Angelika Haller, Susanne Herzig

Regieassistenz: Holger Buck


Regie: Klaus Buhlert

Gaius Valerius Catullus (84 bis 54 vor Christus) aus Verona, der mit 30 Jahren gestorben sein soll, war ein Zeitgenosse Caesars und Ciceros. Als wichtigster Vertreter der Neoteriker - einer Moderne, die sich gegen die altüberlieferte epische Dichtung eines Homer oder Ennius wandte - brachte er die Unmittelbarkeit der Umgangssprache in die Poesie ein, in pointierten Epigrammen und Kurzgedichten, die sich ebenso gegen die Korruption der damaligen Zeit wandten, wie sie cholerisch - aber ebenso kalkuliert - seine Dichterkollegen aufs Korn nehmen oder seine Liebesaffäre mit der Schwester eines Verbündeten Caesars (die er in Hommage an Sappho 'Lesbia' nannte) in den Vordergrund stellen. "Man merkt es der Gegenwartslyrik an, wenn sie sich entweder in sentimentalen Anekdoten oder aber in postmoderner Sprachklitterung erschöpft, daß sie ihre Mitte verloren hat: das Bewußtsein von ihren eigentlichen Funktionen und Legitimationen und der Bandbreite der ihr zur Verfügung stehenden Ausdrucksmittel. Einer der Gründe dafür ist die Ignoranz, die man der Geschichte der Poesie weitgehend entgegenbringt. Man versteht sie, wenn, dann nur akademisch; das beweisen nicht zuletzt die erhältlichen Ausgaben der Klassiker und ihre Übersetzungen, die nicht von Dichtern, sondern von Philologen stammen - sie wurden nie adaptiert und einer Gegenwart zugedacht, sondern nur immer weiter als Karteikarte geführt. Dementsprechend stammt auch das Deutsch dieser Pfründe aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, das Bild der Antike noch immer von Winckelmann und die ehrfürchtige Haltung von einer scheinbaren Erhabenheit, der man nur mit einem gespreizten Stil gerecht zu werden glaubt. Herder, Goethe, Hölderlin und Schlegel waren die letzten, die um eine Auseinandersetzung mit den Wurzeln der Poesie bemüht waren; mit Ausnahme von Fritz Graßhoffs 'Klassischer Halunkenpostille' ist seitdem jedoch nichts nennenswertes mehr geschehen - anders als etwa in England, wo Anthologien von Homer, Horaz- oder Materialübersetzungen zum laufenden Programm der Verlage gehören oder eben wieder Nachdichtungen zu Ovid von Ted Hughes erschienen sind. Das Interesse daran ist keineswegs anachronistisch: das Instrumentarium der Poesie und ihre Objekte ist über Jahrtausende in ihrem Wesen fast gleich geblieben. Die Analogien der Metapher, die Suggestivität ihrer Bilder stellen eine archetypische Art des Denkens dar: es ist ebenso archaisch wie gerade modern, von 'schwarzen Löchern', 'roten Riesen' oder Elementarteilchen mit den quantenphysischen Eigenschaften von 'Wahrheit, Schönheit und Zauber' zu sprechen. Anders gesagt: die Poesie kann ihre Tradition nie ganz abschütteln. Sie wird weder die Gnomik und das Moralisieren von Sprichwörtern los, noch das Engagement ihrer Panegyrik, weder die obskure Metonymie des Rätsels noch die Spuren der Religion - von der sich die Dichtung erst langsam emanzipierte. Was sich ändert, sind nicht die Sprachfiguren, sondern nur ihre jeweilige Akzentuierung in wechselnden Kontexten. Sapphos Gedichte unterscheiden sich von denen Emily Dickinsons oder Ingeborg Bachmanns deshalb auch nur äußerlich; ob Götter oder Geliebte - die Apostrophe bleibt dieselbe" (Raoul Schrott).

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Mitwirkende

Sprecher/Sprecherin
Raoul Schrott


 

Quellen zum Hörspiel - © DRA/Michael Friebel


PRODUKTIONS- UND SENDEDATEN

Bayerischer Rundfunk / Hessischer Rundfunk / Österreichischer Rundfunk 1997

Erstsendung: 25.02.1998 | 19'54


VERÖFFENTLICHUNGEN

  • CD-Edition: Eichborn Verlag 1998

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