ARD-Hörspieldatenbank

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Originalhörspiel



Hartmut Geerken

Maßnahmen des Verschwindens: Eine Exiltrilogie (3. Teil: fast nächte - nach ungesichteten schriften aus dem nachlaß von mynona)

hörspiel nach ungesichteten schriften aus dem nachlaß von mynona


Technische Realisierung: Günter Heß, Alfons Seebacher, Uta von Reeken, Gudrun Greger

Regieassistenz: Mira Alexandra Schnoor


Regie: Hartmut Geerken

Hartmut Geerken über sein Hörspiel: "Der deutsche Philosoph Salomo Friedlaender (1872-1946), der unter dem Pseudonym Mynona (Anagramm von Anonym) als Schöpfer der literarischen Groteske in die Literaturgeschichte eingegangen ist, sitzt in seiner ärmlichen Wohnung im Nordosten von Paris und schreibt lange Listen von Wörtern in ein selbstgebasteltes Heft aus Blättern eines alten Tischkalenders. Es sind Merkwörter zu Schüttelreimen. Man schreibt die Jahre 1941 bis 1945. Seit Jahren hat Mynona seine Wohnung nicht mehr verlassen. Stuben-Arrest. Einen ganzen Winter verbringt er im Bett, weil das Heizmaterial fehlt. Aber die Hauptgründe der Isolation sind seine schlimme asthmatische Verfassung, die dauernde Gefahr der Deportation in ein Vernichtungslager im Osten und die verschlissene Kleidung, in der er nicht mehr unter die Leute will. Die knisternde Monotonie dieser 'Gefangenschaft' ist die eine Stimmung des Hörspiels. Die andere ist der Fasching. Kein richtiger Fasching, sondern ein verdrängter, eine groteske, brutale 'fast Nacht'. So nämlich lautet der Titel einer seiner bitterbösen Geschichten, die im Hörspiel ungekürzt von einem ehemaligen Dachauer KZ-Häftling (Max Mannheimer) gelesen wird. Die Hörspielfassung der Geschichte wurde aus Aufzeichnungen aus dem Nachlaß restituiert. In polaristischer Entsprechung zu dem Text 'fast Nacht' liest ein unverbesserlicher 93jähriger Nazi, es ist der Vater des Autors, Namen von Häftlingen, Konzentrationslagern und Listen von Häftlingsnummern aus 'Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939-1945'. Leo Bardischewski, der Hauptsprecher, ist nicht nur Sprecher. Er muß auch Mynonas Handschriften, die er vor der Aufnahme nicht zu Gesicht bekam, entziffern. Bardischewski konnte sich innerhalb eines bestimmten Handschriftenkonvoluts seinen Text selbst zusammenstellen. Die Ausgangswörter der Schüttelreime mußte er zu ergänzen versuchen. Von einer fast vollständig ausgebleichten Gedichthandschrift waren nur noch einzelne Wörter oder Wortfragmente zu erkennen; Inhalt und Sinn waren so gut wie verschwunden. Das hatte seine Auswirkungen auf die Art des Sprechens. Die Pausen zwischen den Wörtern wurden wichtiger als die Wörter selbst. Die vielseitig polarisierten historischen Dokumente machen eine herkömmliche Dramatisierung schier unmöglich; eine Ordnung nach ästhetischen Maßstäben wäre in Anbetracht der Thematik vollends fehl am Platze. Das Material, das dem Hörspiel zugrunde liegt, hat genügend Energien in sich, um sich gewissermaßen selbst zu organisieren. Der Autor schafft nur die Bedingungen, unter denen es innerhalb des dokumentarischen Materials zu Kristallisationen und deren Auflösungen kommt. Der Autor vertraut auf das Material und seine Eigendynamik. Diese interaktive Methode ist dem Thema adäquat und bewegt sich hart an den Grenzen des Scheiterns, des Verstummens, des Verschwindens: ein risikoreicher 'Gehörspielsturz'.

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Mitwirkende

Sprecher/Sprecherin
Max Mannheimer
Leo Bardischewski
Heinrich August Geerken
Hartmut Geerken
Salomo Friedlaender


 


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Quellen zum Hörspiel - © DRA/Michael Friebel


PRODUKTIONS- UND SENDEDATEN

Bayerischer Rundfunk 1992

Erstsendung: 11.12.1992 | 75'54

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