Originalhörspiel
Autor/Autorin:
Mauricio Kagel
Die Umkehrung Amerikas
Episches Hörspiel
Komposition: Mauricio Kagel
Redaktion: Klaus Schöning, Frans van Rossum
Regie: Burkhard Ax
Realisation: Mauricio Kagel
Weitere Mitwirkende
Sprecher/Sprecherin Rolle/Funktion Gert Haucke Spanier 1 Peter Fricke Spanier 2 Christian Brückner Spanier 3 John Bröcheler Indianer 1 Arnold Geldermann Indianer 2 Hans Veermann Indianer 3 Ileana Melita Indio und Spanische Frau Sara Heyblom Alte Frau
'Während der ersten dreißig Jahre der Conquista, nach der Landung von Hernán Cortéz, wurd durch Mord und Totschlag die Bevölkerung von Zentral-Mexiko von 25 Millionen auf etwa 6 Millionen verringert: das sind 19 Millionen Opfer. Somit wurden auch moderne Erfahrungen über ein systematisches Genoizid ungeahnten Ausmaßes gewonnen; die Anwendung dieser Erkenntnisse hat mit wechselnden Werkzeugen seitdem nicht aufgehört. Nach dem Schock der Begegnung zwischen Europäern und Indios wurde die Demütigung am deutlichsten durch das Aufzwingen einer Fremdsprache. Vielleicht kann das Hauptthema dieses Hörspiels: der programmierte Verlust der eigenen Kultur durch den Verlust der eigenen Sprache dem Hörer einleuchtend werden, wenn er einer krankhaft artikulierten, jedoch verständlichen Sprache folgen muß."
In der Zeit von Februar 1975 bis Juni 1976 arbeitete Kagel an Text und
Partitur der "Umkehrung Amerikas", einem Hörspiel, das später als
"Meilenstein in der Entwicklung des Hörspiels" gewertet wurde. Es ist
der Versuch, Unterdrückung und Umkehrung einer Kultur durch eine
andere erfahrbar zu machen, Unaussprechliches auszusprechen. Das
Hörspiel bezieht sich auf authentische Dokumente und Berichte, auch
auf den lange geheim gehaltenen "Kurzgefaßten Bericht von der
Verwüstung westindischer Länder" (1542) des spanischen Geistlichen
Bartlome de las Casas.
Das Hörspiel "Die Umkehrung Amerikas", ein Pendant zu seinem
musiktheatralischen Werk "Mare nostrum", stellt die Grausamkeit
zahlloser Methoden körperlicher und geistiger Zerstörung eines Volkes
dar und erreicht durch "die Aneinanderreihung von Untaten die
Vollständigkeit eines saide-Memoires kolonialer Eroberungskriege". Die
vielfältigen Techniken von Tortur und Liquidation werden "statt eines
Handlungsablaufs allein durch die Aneinanderreihung von tatsächlichen
Aktionen erzählt. Eigentlich könnte dieses Manuskript in den
Nachrichten gesendet werden."
Die Komposition des Hörspiels läßt sich grob in drei Komplexe
gliedern: der erste Teil führt in den Figuren der drei Spanier das
Vokabular des Sadismus und die Absichten der Eroberer vor. Dies
geschieht in Form von rhythmisierten Wortreihungen. Der zweite Teil
der Komposition ist gekennzeichnet durch das demütigende Aufzwingen
einer Fremdsprache. Der Verlust der Identität beginnt mit der Dressur
des fremden Alphabets: "Sag A...U."
Im dritten Teil kommen die Indios "zur Sprache". Sie erzählen nach
ihrer Umkehrung von ihren Leiden. Diese artikulieren sie in einer im
buchstäblichen Sinne "umgekehrten" Sprache.
Um das peinvolle Lernen einer europäischen Sprache, um die Mühe und
das Unfreiwillige des Sprachprozesses auszudrücken, entwickelte Kagel
ein Verfahren, das nur durch die Anwendung radiofonischer Mittel
hörbar gemacht werden kann. So sprechen die Schauspieler, die die
Indios darstellen, ihre Sätze in der umgekehrten Buchstabenfolge aus.
Anstelle des Wortes "schuldig" sagen sie "gidlusch". Die
Tonbandaufnahme wird bei der Montage umgedreht: aus "gidlusch" wird
"schuldig".
Produktions- und Sendedaten
- Westdeutscher Rundfunk / Katholieke Radio Omroep 1976
- Erstsendung: 27.12.1976 | 63'46
Veröffentlichungen
- CD-Edition: Lilienfeld Verlag 2016 (unter dem Titel "Bilanz: Hörspielkunst aus den Studios des WDR")
Auszeichnungen
- Prix Italia 1977 Preis für Drama