ARD-Hörspieldatenbank
Originalhörspiel
Das Graue Land
Technische Realisierung: Günter Heß, Gerda Koch
Regieassistenz: Christiane Klenz
Regie: Ulrich Lampen
"Erinnern Sie sich. Sie saßen in der U-Bahn und fuhren von der Arbeit nach Hause. Sie waren müde und um Sie herum saßen andere müde Menschen. Jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Vielleicht überlegten Sie sich, was Sie zum Abendessen kochen wollten. Plötzlich fing jemand, der Ihnen gegenüber saß, laut mit sich zu reden an. Obwohl er laut und deutlich sprach, war dem Reden keinerlei Sinn zu entnehmen. Er schien einer Stimme zu antworten, die nur er hören konnte. Vielleicht wechselten Sie den Platz. Oder Sie sahen einfach nur weg. Haben Sie jemals versucht, einen solchen Menschen anzusprechen? In den meisten Fällen würde er Sie gar nicht wahrnehmen. Oder Sie als störend empfinden, da Sie sich in ein Gespräch einmischen, das Sie nichts angeht. Man begegnet ihnen überall. In den U-Bahnen, auf öffentlichen Plätzen, auf Rolltreppen, in Kaufhäusern. Es sind die Verrückten der Städte. Sie leben in einer Welt der Stimmen. Als Außenstehender hat man das Gefühl, daß sie ganze Dramen durchleben. Haß, Neid, Angst, Mißgunst, Liebe und Zärtlichkeit kommen eruptiv an die Oberfläche. Sie flüstern und weinen, oft sind sie hysterisch, bekommen heftige Wutausbrüche. Dann wieder lachen sie, als habe sich der Schlund der Hölle aufgetan. Es ist eine fremde, exaltierte Welt. Sie kommt uns bekannt vor, denn sie hat mit unserer Welt große Ähnlichkeit. Sie ist die pervertierte Fratze unserer Welt. Obwohl diese Menschen völlig in sich selbst versunken sind, spürt man eine große Verletzlichkeit. Es sieht fast so aus, als würden sie ständig innere Zwiesprache mit ihren Gefühlen halten. Das ist anrührend. Man hat den Impuls, auf sie zuzugehen und sie zu umarmen. Wir, die wir diese Menschen Verrückte nennen, haben gelernt, die allgemein verbindliche Wirklichkeit zu akzeptieren. Wenn wir sprechen, sprechen wir mit einem anderen Menschen. Jedenfalls in der Öffentlichkeit. In unseren eigenen vier Wänden sprechen wir manchmal mit uns selbst. Aber da hört auch niemand zu" (Petra Fuchs).
Petra Fuchs, 1961 in Roth geboren, studierte an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Sie hat mehrere Filmarbeiten vorgelegt. Für ihre Arbeit wurde sie 1992 mit einem Stipendium des Literarischen Colloquiums Berlin ausgezeichnet. Fuchs wurde mit Mitteln der Hörspielförderung der Filmstiftung Nordrhein-Westfalen unterstützt. Hörspiele: "Tumult" (BR 1991), "Wie am Meer" (1993).