ARD-Hörspieldatenbank
Hörspielbearbeitung
Das dreißigste Jahr
Eine Monolog-Erzählung
Vorlage: Das dreißigste Jahr (Erzählung)
Regie: Oswald Döpke
Der zwischen Er- und Ich-Form wechselnde Monolog eines jungen Mannes, der beim Eintritt in das dreißigste Lebensjahr aus der Retrospektive eine Bestimmung des erfahrenen und eine Orientierung auf das zu erwartende Leben versucht.
»Wenn einer in sein dreißigstes Jahr geht, wird man nicht
aufhören, ihn jung zu nennen. Er selber aber, obgleich er
keine Veränderungen an sich entdecken kann, wird unsicher;
ihm ist, als stünde es ihm nicht mehr zu, sich für
jung auszugeben. Und eines Morgens wacht er auf, an
einem Tag, den er vergessen wird, und liegt plötzlich da,
ohne sich erheben zu können, getroffen von harten Lichtstrahlen
und entblößt jeder Waffe und jeden Muts für
den neuen Tag. Wenn er die Augen schließt, um sich zu
schützen, sinkt er zurück und treibt ab in eine Ohnmacht
mitsamt jedem belegten Augenblick. Er sinkt und sinkt,
und der Schrei wird nicht laut (auch er ihm genommen,
alles ihm genommen!), und er stürzt hinunter ins Bodenlose,
bis ihm die Sinne schwinden, bis alles aufgelöst,
ausgelöscht und vernichtet ist, was er zu sein glaubte. Wenn er das Bewußtsein wiedergewinnt, sich zitternd besinnt und wieder zur Gestalt wird, zur Person, die in Kürze aufstehen und in den Tag hinaus muß, entdeckt er in sich aber eine wundersame neue Fähigkeit. Die Fähigkeit, sich zu erinnern.«
(Ingeborg Bachmann)
So beginnt Ingeborg Bachmanns Monolog-Erzählung "Das dreißigste Jahr". Der zwischen Er- und Ich-Form wechselnde Monolog eines jungen Mannes, der beim Eintritt in das dreißigste Jahr aus der Retrospektive eines Bestimmung des erfahrenen und eine Orientierung auf das zu erwartende Leben versucht, zeigt die Lyrikerin, deren Hörspiele "Zikaden" und "Der gute Gott von Manhattan" zu den bleibenden Leistungen dieser literarischen Form gehören, auf der Höhe ihrer Begabung. Wir glauben, das formal nicht ohne weiteres an eine Hörspielsendung denken läßt, dem intimen Berichtscharakter der Erzählung durchaus angemessen ist.
Ingeborg Bachmann, (1926–1973), geboren in Klagenfurt, ging zum Studium der Philosophie nach Wien. 1946 veröffentlichte sie die erste Erzählung, »Die Fähre«, bald folgten Gedichte, für die sie u.a. den »Preis der Gruppe 47« erhielt. 1959 wurde ihr der »Hörspielpreis der Kriegsblinden« für »Der gute Gott von Manhattan« verliehen. 1961 erschien ihr Erzählband »Das dreißigste Jahr«, 1971 der Roman »Malina«, der die Ouvertüre des großangelegten Romanprojektes »Todesarten« sein sollte, das bis zu ihrem Tod in Rom unvollendet blieb. (Zitat und Biographische Notiz vom SWR 2017)