ARD-Hörspieldatenbank
Science Fiction-Hörspiel
Nestflüchter
Technische Realisierung: Fritz Gortner, Astrid Winckler-Tiede
Regie: Andreas Weber-Schäfer
Biochemische Manipulationen und Retortenzucht bringen die Menschen um Gefühle wie Mutterliebe und Geborgenheit. Begonnen hatte alles, als die Politiker gegen Ende des 20. Jahrhunderts den Forderungen der Frauenrechtlerin Agnes Lundström nachgegeben hatten, alle Kinder in staatlichen Heimen großziehen zu lassen. Die Lundström-Gesetze ermöglichten den Frauen, ihre Zeit anderen Dingen als der Aufzucht von Kindern zu widmen. Aber es gab neue Probleme, weil die meisten Frauen die Trennung von ihren Kindern nach der Geburt nicht verwinden konnten. Daß Agnes Lundström zuletzt selbst zum Gegner der Gesetze wurde und ihr eigenes Neugeborenes aus der Säuglingsstation entführte, war eine Ironie, die man der Öffentlichkeit vorenthielt. Man begann nach dem für die Mutterliebe verantwortlichen Hormon zu suchen; mit Erfolg, und bald hatte man auch ein Gegenmittel gefunden, das fortan allen Müttern obligatorisch verabreicht wurde und die lästige Emotion für immer ausschaltete. Aber als die Kinder in der sterilen Atmosphäre der staatlichen Aufzuchtanstalten wegen des Mangels an Nestwärme zu Neurotikern wurden, suchte man den Konfliktauslöser im Widerspruch zwischen natürlichem Heranreifen im Mutterleib einerseits und unnatürlicher Aufzucht andererseits. Statt der unheilvollen Entwicklung rechtzeitig Einhalt zu gebieten, begann man, den Rest an Natürlichem auch noch zu eliminieren und ließ die folgenden Generationen im synthetischen Uterus heranwachsen. Die Manipulationen erreichten ihren Höhepunkt, als es bei Vögeln gelang, aus Nesthockern Nestflüchter zu machen und man diesen gentechnischen Eingriff auf den Menschen übertragen konnte. Endlich war der Nesthockertrieb als Ursache der meisten Neurosen und unnützen Gefühle eliminiert. Aber es stellte sich heraus, daß die neuen Menschen, die keine Häuser und Städte mehr brauchten, einen fatalen Zerstörungstrieb in sich trugen. Die wenigen noch natürlich Geborenen aber lebten fortan in einer patriarchalischen Nomadengesellschaft, ständig auf der Flucht vor dem neuen Menschen, bedroht von der Ausrottung, nach der sie sich jedoch im Inneren sogar sehnen.