Originalhörspiel, Kurzhörspiel, Science Fiction-Hörspiel

Autor/Autorin: Friedhelm Jeismann

Leben auf dem Millimeter

Von Leuten, die in Schachteln wohnen

Regie: Manfred Marchfelder

  • Weitere Mitwirkende

    Sprecher/SprecherinRolle/Funktion
    Christoph QuestErzähler
    Henning SchlüterRedner
    Evamaria MinerCornelia
    Friedhelm JeismannSprecher

Weil biochemische Mittel versagt haben, ist das Problem der Bevölkerungsexplosion auf architekonischem Weg gelöst worden. Nach dem Verbot von Ovulationshemmern, deren jahrhundertelanger Gebrauch zu einem erschreckenden Anstieg von Mutationen geführt hat, hat die Weltbevölkerung die 2-Billionen-Grenze erreicht. Das Ernährungsproblem ist gelöst, aber Wohnraum ist das kostbarste Gut auf Erden. Immer neue Silos werden aus dem Boden gestampft, gigantische Wohntürme, die Zehntausenden von Menschen Unterkunft bieten. Einer der Privilegierten, die sich glücklich schätzen können, ein eigenes Zimmer zu besitzen, fühlt sich dennoch nicht wohl. Er hat die befremdliche Neigung, ausgedehnte Spaziergänge durch die fast menschenleeren Korridore seines Silos zu unternehmen. Bei einer einer Wanderungen stößt er auf das rätselhafte Phänomen, daß an den Flügeln jedes Stockwerks Türen ohne Nummern existieren. Stehen im modernsten Wohnsilo der Welt Tausende von Appartements leer? Aber die Türen erweisen sich als blind. Es gibt keine unbewohnten Räume. Dennoch stellt er wenig später fest, daß tags zuvor noch funktionslosen Türen plötzlich Nummern tragen. Über Nacht müssen Tausende neuer Mieter eingezogen sein. Die plausibel klingende Erklärung seines Psychiaters erweist sich als falsch. Ein kleines Holztischchen, das er trotz hoher Strafandrohungen in sein Zimmer geschmuggelt hat, führt ihn schließlich auf die Spur des bestgehüteten Staatsgeheimnisses. Obwohl das Möbel noch vor kurzem exakt in einer Wandnische Platz fand, ist es jetzt zersplittert. Kein Zweifel: die Wände müssen sich aufeinander zubewegen, so langsam, daß man es nicht wahrnehmen kann. Dreißig Millimeter pro Jahr, so seine Schätzung, schiebt eine raffinierte Hydraulik stetig und unmerklich in jedem Zimmer die Wände zusammen, so daß an der Außenseite automatisch Raum entsteht. Einmal im Jahr werden auf jedem Stockwerk neue Appartements in das Silo hineingestopft. Ein Heer von Psychiatern ist ständig darum bemüht, neues Bewußtsein zu schaffen. Wenn die Menschen eines Tages merken, was vorgeht, werden sie nicht mehr darunter leiden; sie werden konditioniert sein.

Quellen zum Hörspiel - © DRA/Michael Friebel

Produktions- und Sendedaten

  • RIAS Berlin 1970
  • Erstsendung: 13.08.1970 | 28'51

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