ARD-Hörspieldatenbank
Hörspielbearbeitung
Leb wohl, Berlin! (1. Teil)
Vorlage: Goodbye to Berlin (Roman, englisch)
Bearbeitung (Wort): Heinz Sommer
Komposition: Jörg Achim Keller
Redaktion: Hans Sarkowicz
Technische Realisierung: Ursula Potyra, André Bouchareb, Julia Kümmel
Regieassistenz: Cordula Dickmeiß, Miriam Brand, Leon Haase
Regie: Leonhard Koppelmann
»I’m a camera. I am a camera with its shutter open.« Wie durch ein Kameraobjektiv nimmt Christopher Isherwood die letzten Tage vor der Machtergreifung in Berlin wahr. Sein genaues Zeitporträt ist ein bittersüßer Abgesang auf eine untergehende Welt: das weltoffene, lebenshungrige, sexuell freizügige, dekadente Berlin der 1920er und beginnenden 1930er Jahre. Isherwood porträtiert in seinen blitzlichtartigen Gesellschaftsminiaturen Menschen, die er in und um die Pension des schrulligen Fräulein Schröder trifft: junge Männer auf der Suche nach Lebens- und Liebesglück, Künstlerinnen auf Abwegen, unter ihnen die verrückt leichtsinnige Sally Bowles, sowie eine jüdische Familie aus der Berliner Hautevolee, die in ihrem Lebenshunger die Augen vor dem nahendem Unglück verschließt. Denn die Zeichen sind nicht mehr zu übersehen, die Nazis gewinnen mehr und mehr Zustimmung in der Bevölkerung und im politischen Machtzentrum der fragilen Weimarer Republik. Die geschickte Bearbeitung von Heinz Sommer (zuletzt u.a. Homo Faber und Tonio Kröger) verwebt dieses Kaleidoskop mit Zeitdokumenten: Ausschnitten aus Filmtonspuren, Reden und Zeitungsmeldungen. So wird das sehr persönliche Gesellschaftspanorama Isherwoods um eine politischhistorische Dimension erweitert. Dazu hat Jörg Achim Keller zusammen mit der hr-Bigband eine musikalische Suite komponiert und aufgenommen, die vom zeitgenössischen Schlager über Hot Jazz-Stilistiken bis zu Neutönendem diesen Tanz auf dem Vulkan zu einem einzigartigen, geschlossenen Soundtrack verbindet. Ein wunderbares Schauspielerensemble hat sich für die Umsetzung des Stoffes unter der Leitung von Leonhard Koppelmann zusammengefunden, um diesen emotionsprallen Stoff zum Leben zu erwecken – unter anderen mit Christopher Nell (als der junge Christopher Isherwood), Mathieu Carrière (als sein älteres Autoren-Alter-Ego), Laura Maire (als Sally Bowles) und Barbara Philipp (als Fräulein Schröder).
Christopher Isherwood wurde 1904 als Sohn eines Offiziers geboren. Sein Vater fiel 1915 während der Zweiten Flandernschlacht des Ersten Weltkriegs. Isherwoods privilegierte Kindheit führte ihn schon in jungen Jahren mit W. H. Auden und Edward Upward zusammen. Später studierte er erst in Cambridge Geschichtswissenschaft, wurde jedoch dort bald exmatrikuliert. Auch das anschließende Medizin-Studium am King’s College in London brach er bald wieder ab. 1929 folgte er seinem Freund, dem Schriftsteller W. H. Auden nach Berlin. Beide waren fasziniert von der Atmosphäre, dem Tempo und der Schwulenszene der Stadt – »Berlin ist der Traum eines jeden Schwulen«, schrieb Auden damals, »Es gibt hier 170 von der Polizei überwachte einschlägige Bars und Gaststätten.« Isherwood sprach bald fließend Deutsch, und finanzierte so sein Leben in Berlin als Sprachlehrer. 1930 zog er in die Nollendorfstraße 17 im Bezirk Schöneberg, ganz in der Nähe des für seine Travestie-Shows bekannten Tanzkabaretts Eldorado. Sein Roman »Leb wohl, Berlin« aus dem Jahr 1939 begründete in England seinen Ruf als literarisches Wunderkind und prägte im angelsächsischen Sprachraum das Berlinbild der frühen 1930er Jahre. Die bekanntesten Figuren des Romans waren seine Mitbewohner der Privatpension Thurau in der Nollendorfstraße. 1931 lernte er dort Jean Ross kennen, die das Vorbild für die Figur der kapriziösen Nachtklub-Sängerin und aufstrebenden Schauspielerin Sally Bowles wurde. Die Vermieterin Meta Thurau wurde in seinem Roman zu Lina Schröder, für Isherwood eine typische Berlinerin, die sich trotz anfänglicher Ablehnung des Nationalsozialismus schließlich mit dem System arrangierte. Die Motive seiner »Berlin Stories« wurden zunächst für das Broadway-Theaterstück »I Am a Camera« (1951) und den gleichnamigen Film (1955), dann für das Musical »Cabaret« (1966) und schließlich 1972 für den Film »Cabaret« adaptiert.