Originalhörspiel
Autor/Autorin:
Bertolt Brecht
Lindberghflug
Hörspiel von Brecht-Hindemith-Weill
Komposition: Paul Hindemith, Kurt Weill
Musikalische Leitung: Hermann Scherchen, Walter Goehr
Vom "Lindberghflug" liegen vier maßgebliche, auf Brecht zurückgehende Fassungen vor: (I) Der Erstdruck im auflagenstarken Monatsmagazin "Uhu" des Ullstein-Konzerns vom April 1929 mit dem Titel: "Lindbergh. Ein Radio-Hörspiel für die Festwoche in Baden-Baden"; (II) der Text der Fassung, die der radiophonen Uraufführung am 27. Juli 1929 zugrunde lag und im Programmheft der Kammermusik Baden-Baden, mit dem Titel "Der Lindberghflug" abgedruckt wurde; er umfasst 16 Abschnitte (Szenen), ist gegenüber dem Uhu-Druck um wenige Passagen erweitert und weist in der Szenenüberschrift 16 die Variante "Bericht über das Unerreichbare" (statt: "Erreichbare") auf; (III) der Druck in den Versuchen 1-3 im Kiepenheuer Verlag Berlin von 1930 mit dem Titel: "Der Flug der Lindberghs (Radiolehrstück für Knaben und Mädchen)", erweitert um die Szenen 2 und 8 (Ideologie), sowie (IV) Der Ozeanflug von 1949, die Fassung, die für den Süddeutschen Rundfunk im Dezember des Jahres geplant war, aber nicht gesendet wurde; sie gilt für die Brecht-Erben als die maßgebliche Fassung und bildete deshalb die Textgrundlage für die Gesammelten Werke im Suhrkamp Verlag von 1967 (dort Band 2). Wegen der engen Beziehungen Lindberghs zu den Nazis, wie Brecht damals (fälschlich) annahm, sollte der Name »Lindbergh« sowohl im Titel als auch im Text getilgt werden (statt: »Mein Name ist Charles Lindbergh« sollte es nun heißen: »Mein Name tut nichts zur Sache«, statt »Lindbergh spricht mit seinem Motor« jetzt: »Das Gespräch der Flieger mit ihrem Motor«). – Die Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (GBA) in 30 (= 33) Bänden (1988-2000) druckt (entgegen ihrem Editionsprinzip, die ersten wirksam gewordenen Fassungen als Textgrundlagen zu wählen) den Text nach den Versuchen ab (2. Auflage), eine Fassung, die zu Brechts Lebzeiten – weder im Radio noch auf der Bühne – gespielt oder gesendet worden ist. – Die Fassung (II), die am 27. Juli 1929, 17.30 Uhr, die in den »Kleinen oberen Sälen« des Kurhauses von Baden-Baden mit dem Frankfurter Rundfunkorchester uraufgeführt wurde, umfasste 16 Nummern. Kurt Weill komponierte die Musik zu den »Nummern 1, 2, 3, 4, 6b, 9, 12 und 13« (nach dem Programmheft), Paul Hindemith schrieb die Musik zu den, als »amerikanisch« bezeichneten, Nummern 5 (Nebel: Melodrama), 6a (Schneesturm: Bass), 8 (Schlaf: Alto und Tenor), 11 (Französische Zeitungen: Chorus) 14 (Erwartung des Fliegers: Chorus) und 16 (Bericht über das Unerreichbare: Solist und Chorus). Die Nummern 7 (Wasserrauschen), 10 (Rezitation des Glücklichen) und 15 (Ankunft in Paris) kamen als Geräusche oder gesprochenes Wort über den Apparat oder von der Schallplatte. Die einmalige und nicht aufgezeichnete Ausstrahlung erfolgte aus einem Studio im Kurhaus in der Regie von Ernst Hardt als Simulation einer Live-Übertragung. Als Sprecher war der Reporter Paul Laven engagiert, dessen Stimme dem Publikum noch aus seiner Übertragung des historischen Flugs von Lindbergh (20./21. Mai 1927) in den Ohren war. Im Anschluss folgten die Serenade für Rundfunk von Jerzy Fitelberg und Lion Feuchtwangers antiamerikanische Pep-Gedichte als »Funkkabarett« mit der Musik von Walter Goehr. – Die rein audiophone Version von "Der Lindberghflug" sowie die sich anschließenden Stücke von Feuchtwanger und Fitelberg wurden mit den Beteiligten der Baden-Badener Inszenierung (Regie: Ernst Hardt) am 29. Juli 1929 im Studio des Frankfurter Senders >live< wiederholt und ab 20.15 Uhr unter dem unspezifischen Programmpunkt "Übertragung aus Frankfurt a.M." (bis 22.00 Uhr) über alle deutschen Sender außer der Deutschen Welle und der Deutschen Stunde in Bayern ausgestrahlt; sie erreichte ein Millionenpublikum. – Die (vielfach auch als Uraufführung verzeichnete) »öffentliche Generalprobe« des Lindbergflug, die nach dem Programm am 27. Juli im Anschluss an den Vortrag von Prof. Wagner angesetzt war, fiel aus zugunsten einer konzertant-szenischen Neuansetzung des Stücks im Kursaal am 28. Juli, nachmittags; Regie führte Brecht. Sie bildete einen Gegenentwurf zur radiophonen Inszenierung von Hardt. – Es liegen, weil damals Aufzeichnungen noch nicht vorgesehen waren, keine Tondokumente zu den drei Aufführungen vor. Eine weitere radiophone Inszenierung der Fassung II (Brecht-Hindemith-Weill) von Baden-Baden wurde am 18. März 1930, 22:00 Uhr, aus der Berliner Philharmonie unter der Leitung von Hermann Scherchen als Produktion der RRG von der Berliner Funk-Stunde sowie über die Regionalsender Brüssel und London ausgestrahlt und auf Schellackplatten aufgezeichnet. – Kurt Weill publizierte, nachdem er die Anteile von Hindemiths Vertonungen, mit dem Vorwurf »riesige Schweinereien«, verworfen hatte, 1930 eine eigene Fassung mit dem Titel "Der Lindberghflug. Worte von Brecht. Musik von Kurt Weill" in der Universal-Edition Wien/Leipzig. Sie entspricht mit Varianten der Fassung der Versuche, ohne die Szenen 8 (Ideologie) und 9 (Wasser). Sie wurde am 5. Dezember 1929 an der Staatsoper Berlin unter der Leitung von Otto Klemperer uraufgeführt und 1930 in der Universal-Edition publiziert. – Der Text der Baden-Badener audiophonen Fassung (II) wurde zudem in den sendereigenen Zeitungen – aufgrund der (damals noch) schlechten technischen Übertragungsqualität – eigens für das Rundfunk-Publikum zum Mitlesen in Die Werag, der Programmzeitschrift des Westdeutschen Rundfunks Köln, sowie in der Südwestdeutschen Rundfunkzeitung, Frankfurt a.M.) abgedruckt.
Weitere Informationen
Zur Historie der Aufführungen: Die am 27. Juli 1929 im Anschluss an den Vortrag von Karl Willy Wagner (Universität Karlsruhe) "Über elektro-akustische Rundfunkprobleme mit praktischen Vorführungen" (10.30 Uhr) im Programm offiziell angesetzte, oft als Uraufführung deklarierte, »öffentliche Generalprobe« des "Lindberghflug" im Großen Bühnensaal des Baden-Badener Kurhauses entfiel ersatzlos. Die Uraufführung von "Der Lindberghflug. Worte von Brecht. Musik von Hindemith und Weill" fand demnach als radiophone Übertragung am 27. Juli 1929 um 17:30 Uhr unter dem Obertitel "Originalmusik für Rundfunk" statt. Die Regie führte der Frankfurter Rundfunkintendant Ernst Hardt. Das ausgesuchte internationale Publikum wurde in Gruppen von etwa je 20–50 Personen in den Kleinen oberen Sälen des Kurhauses an leeren Tischen verteilt. Das Arrangement sollte die »absolute Ausschaltung der Optik« gewährleisten, sodass »der Inhalt dem Zuhörer restlos aus dem Gehörten klar wird«, wie es Hans Flesch als Organisator der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft (RRG) vorgesehen hatte. Die RRG trat als Mitveranstalter auf, weil sie, wie der Titel besagte, "Originalmusik für Rundfunk", das hieß: auf die Technik des Rundfunks abgestimmte, für dessen »Arteigenheiten« geeignete Kompositionen (laut Programmheft) anregen, erproben und für den staatlichen Rundfunk durchsetzen wollte. – Die für die ausgefallene >Generalprobe< am Nachmittag des 28. Juli im Bühnensaal des Kurhauses neu angesetzte szenisch-konzertante Demonstration des "Lindberghflug" stellte keine »Wiederholung« der Aufführung vom Vortag dar, sie war vielmehr eine eigene Inszenierung in der Regie von Bertolt Brecht. – Die voranstehenden Angaben beruhen auf den Erkenntnissen der Brecht-Forschung, vertreten durch die Arbeitsstelle-Bertolt-Brecht (ABB) am KIT (Karlsruher Institut für Technologie), Leitung: Prof. Dr. Jan Knopf.
Bertolt Brecht (1898−1956), Lyriker, Dramatiker, Theaterregisseur und -theoretiker. Mit Helene Weigel 1949 Gründung des Berliner Ensembles. Weitere Hörspieladaptionen u.a. Leben des Galilei (BR/DRS 1960), Der Ozeanflug (SWR 1966), Aus dem Lesebuch für Städtebewohner (DLF/BR/WDR 1997), Hangmen Also Die (mit Fritz Lang, BR 2005), Trommeln in der Nacht (RBB 2020). (Biographische Notiz von 2023)

Produktions- und Sendedaten
- SÜWRAG - Südwestdeutscher Rundfunkdienst AG (Frankfurt am Main) 1929
- Sendeplatz: Rundfunk-Kompositionen des Baden-Badener Musikfestes
- Erstsendung: 29.07.1929
Livesendung ohne Aufzeichnung
Grundlage der Datenerhebung: Der Deutsche Rundfunk (Programmzeitschrift)
Rezensionen (Auswahl)
- Dr. Strobel.: Kritik - Rundfunkmusik in Baden-Baden: Der Deutsche Rundfunk. 7. Jahrgang. 01.08.1929. Heft 31. S. 1003.
- Dr. R.: Was die Woche brachte: Baden-Baden.: Der Rundfunkhörer. 6. Jahrgang. 09.08.1929. Heft 15. S. 8.
- Jan Knopf: Bert Brechts Weimarer Geschichten. Soziale Biografie. Heidelberg 2024.