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Ästhetik der »Auskältung«
Drei Hörspiele von Heiner Müller und den Einstürzenden Neubauten (1988 – 1990)
Heiner Müller entwarf eine Hörspielästhetik des Fragmentarischen und der »Auskältung«, die er in Zusammenarbeit mit den Musikern der Einstürzenden Neubauten Ende der 1980er Jahre in drei Hörspielen umsetzte. Rückblickend entfalten die drei im Folgenden beschrieben Werke auch deshalb eine besondere Wirkung, da sie – jeweils als Bruchstücke der Geschichte oder auch bruchstückhafte Geschichte angelegt – die letzten Jahre des Rundfunks der DDR markieren. Nur sechs Tage nach der Erstsendung der »Hamletmaschine«, am 3. Oktober 1990, begann die Übergangsphase des DDR-Rundfunks, wie sie im Einigungsvertrag geregelt war. Zum 1. Januar 1992 wurde der Rundfunk der DDR endgültig abgeschaltet.
»Untergang des Egoisten Fatzer« (1988)
Am 11. Februar 1988 strahlte der Berliner Rundfunk anlässlich des 90. Geburtstags Bertolt Brechts das Hörspiel »Untergang des Egoisten Fatzer« in der Fassung von Heiner Müller aus. Müller hatte das etwa 600 Seiten umfassende Fragment von Brecht aus den Jahren 1927 bis 1931 gesichtet und 1977/1978 zunächst zu einer Bühnen-Spielfassung montiert, bevor er diese 1987 für den Rundfunk inszenierte. Heiner Müller umschrieb die Fabel so: »Vier Leute desertieren aus dem ersten Weltkrieg, weil sie glauben, die Revolution kommt bald, verstecken sich in der Wohnung des einen, warten auf die Revolution, und die kommt nicht. Da es keine besseren, keine expansiven Möglichkeiten gibt für ihre angestauten revolutionären Bedürfnisse, radikalisieren sie sich gegeneinander und negieren sie sich gegenseitig.«[1]
Wesentlich war für Müller der Fragmentcharakter des Stückes – nicht nur formal-äußerlich, wie ihn Brecht hinterließ, sondern auch in dem Sinne, dass das Drama den »Fragment-Charakter der deutschen Geschichte« widerspiegele.[2] So blieb der »Fatzer« auch in der Müller-Fassung Fragment, und entsprechend roh realisierte er die akustische Inszenierung für den Rundfunk. Er besetzte die Produktion fast ausnahmslos mit Sprecherinnen und Sprechern, die keine schauspielerische Ausbildung hatten, und gab ihnen vor, den Text »mechanisch« und »trocken« zu sprechen.[3] Er verließ für die Aufnahmen das Funkhaus, um der optimierten Studioakustik zu entgehen, und nahm die Szenen teilweise unter freiem Himmel auf dem Gelände auf. Er verlangte in der technischen Produktion harte Schnitte und untersagte akustische Übergänge, auch Papiergeraschel und andere Hintergrundgeräusche, die in gewöhnlichen Hörspielen vermieden werden, sind Teil des Werkes. Im Hörzitat sind die ästhetisierten Ungeschliffenheiten wie Hintergrundrauschen und Pfeifen (vermutlich als Ergebnis einer Aufnahme im Freien), der harte Schnitt beim Einschub des Erzählers, und das monotone Sprechen zu vernehmen:
Um diese Hörspielästhetik der Brüche und der Grobheit beim Rundfunk der DDR durchzusetzen, brauchte es etwas Hartnäckigkeit: »Natürlich sträubte sich alles, was Leute im Funk, die Hörspiele gemacht haben, gelernt haben […]. Und es sträubten sich auch sämtliche Techniker dagegen, ›sowas geht nicht‹ […]. Aber es stellte sich doch heraus, es geht nur so«, berichtete Müller.[4] »Auskältung« von Szenen und Situationen für das Medium Rundfunk nannte Heiner Müller seine Ästhetik, und begründete sie so:
»Man muß davon abkommen, das Sehen ersetzen zu wollen mit dem Hören. Das ist der Unsinn. Da ist etwas, das wird nur gehört, und darauf muß man sich einstellen.«[5]
Die »Auskältung«, die Mechanik und der Experimentcharakter werden im »Fatzer« unterstützt durch eine ähnlich radikale Hörspielmusik: Heiner Müller wählte Stücke von den beiden ersten Alben der Einstürzenden Neubauten. Die West-Berliner Band verwendete als Instrumentarium gefundene und selbstgebaute Objekte sowie Schrott. Mit ihren klanglichen Grenzauslotungen zwischen Musik und Geräusch lärmten sie jeglichen Hörgewohnheiten dieser Zeit entgegen.
»Bildbeschreibung« (1988)
»Eine Landschaft zwischen Steppe und Savanne. Der Himmel preußischblau. Zwei riesige Wolken schwimmen darin…«, beginnt die zunächst harmlose »Bildbeschreibung«, gesprochen von der markant-bekannten Stimme David Bennents. Vorangestellt ist eine einleitende Collage aus Hitchcock’schem Vögelgeschrei und mottohaften Zitatfetzen aus dem Stück, die eine Struktur der Wiederholung und des Erinnerns bilden, über der – dieses Mal eigens für das Stück komponierten – Hörspielmusik der Einstürzenden Neubauten. Einen dumpf-metallischen, beklemmenden, pulsierend-rhythmischen Bilderrahmen formt die Musik, innerhalb welchem sich ein klaustrophobisches, rätselhaftes Drama in sprachlichen Andeutungen entspinnt. Darin werden die Subjekte Frau, Mann, Vogel in immer neue Zusammenhänge imaginiert, verschiedene Optionen verworfen und neu gemischt.
Das Hörspiel nach dem gleichnamigen Theaterstück von Müller selbst wurde am 14. November 1988 im Berliner Rundfunk erstausgestrahlt. Dass ausgerechnet eine »Bildbeschreibung« die Müllersche Funkästhetik des bildlosen, puren Hörens im Ausdruck verleihen soll, mag widersprüchlich erscheinen. Tatsächlich lehnte Müller akustische Illustrationen und jeden funkischen Naturalismus – »was man so ›Theater für Blinde‹ nennt«[6]– ab und wollte stattdessen Texte in ihrer reinen Sprachform, ohne psychologisierende Ausdeutung, inszenieren. In seiner »Bildbeschreibung« entzieht er den Hörerinnen und Hörern in radikaler Weise die Möglichkeit, ein inneres Bild entstehen zu lassen. Der zweite Teil des Hörspiels etwa kippt symmetrisch fast exakt in der Mitte des Stückes die bisherige Bildbeschreibung und -deutung. Umgesetzt wird dies durch ein apokalyptisches Gegenbild, eingeleitet durch die Hitchcock‘schen Vögel, dem beunruhigenden Pulsieren der Musik, dann ein sprachliches Zerfließen (vgl. Hörzitat):
»Hamletmaschine« (1990)
»Ich bin nicht Hamlet. Ich spiele keine Rolle mehr. Meine Worte haben nichts mehr zu sagen… Ich spiele nicht mehr mit.« Nach etwas mehr als 15 Minuten Hörspiel wirft der Hamlet-Darsteller mit diesem Monolog hin. Die anschließend laut gesprochene Regieanweisung lässt die Zuhörerinnen und Zuhörer wissen, dass »Bühnenarbeiter […] vom Hamlet-Darsteller unbemerkt einen Kühlschrank und Fernsehgeräte« aufstellen.
Der Text »Hamletmaschine« entstand im Jahr 1977, als »persönlicher Versuch über die eigene Stellung innerhalb geschichtlicher Abläufe nachzudenken«, und er handelt von »täglicher Gewalt, Unterdrückung, Ausgeliefertsein und Unterwerfung«.[7] Erst 1990 konnte das Werk auf einer Ost-Berliner Bühne gespielt werden und im selben Jahr inszenierten es Wolfgang Rindfleisch und Blixa Bargeld für den Rundfunk der DDR: mit Blixa Bargeld als Hamlet, Gudrun Gut als Ophelia und Heiner Müller als Sprecher. Die Musik: auch dieses Mal Originalkompositionen der Einstürzenden Neubauten. Am 27. September 1990 strahlte Jugendradio DT 64 das Hörspiel erstmalig aus.
Das Motiv der inneren Zerrissenheit der Figur Hamlet überträgt der Text spätestens nach dem Ablegen der Maske (»Ich bin nicht Hamlet.«) direkt auf den Hamletdarsteller und den Sprecher. Im Folgenden wird unmittelbar eine konkret historische Zerrissenheit mit Blick auf die Ereignisse des Ungarischen Volksaufstandes 1956 auf den aus der Rolle Gefallenen projiziert. Der Riss geht zwischen einer Treue zur kommunistischen Utopie und Sympathien für die antistalinistischen Aufständischen hindurch. Die geteilten Sprechrollen zwischen Hamletdarsteller und Sprecher, vor dem Hintergrund des »Geräusches der Kühlanlage« – eine Geräuschmusik der Einstürzenden Neubauten mit quälend-erstickten Schreien – vereinigen sich am Ende zu einem Sprechduett, das den Untergang und Tod des Schauspiels zum Ausdruck bringt. Dann werden die Hörerinnen und Hörer in ein musikalisches Fragmentwerk versetzt, das die Zerrissenheit durch harte Montagen von Stille und Musik und gleichzeitig das Maschinenhafte der »Hamletmaschine« durch metallisch-rohe Klänge zum Ausdruck bringt (vgl. Hörzitat):
Karin Pfundstein
Literatur-Tipps:
- Maubach, Bernd (2012): Auskältung. Zur Hörspielästhetik Heiner Müllers. Frankfurt am Main, Peter Lang Verlag