Regieraum des Hörspielkomplexes im Funkhaus Nalepastraße | Bildquelle: DRA/Edmund Kesting

Der Rundfunk als »Mundfunk«

»Jakob der Lügner« von Jurek Becker (1973)

Der in einem nationalsozialistischen Ghetto eingesperrte Jude Jakob Heym hört dort durch Zufall eine Radionachricht, in der vom Vorrücken der Roten Armee berichtet wird; ein kurzes Signal der Hoffnung auf eine eventuell bevorstehende Befreiung. Das Radiohören und der Besitz von Radios waren allerdings im Ghetto unter Androhung der Todesstrafe streng verboten. Als Jakob feststellt, dass seine Nachricht im von Angst und Tod geprägten Alltag neuen Lebensmut weckt, behauptet er dennoch, ein Radio zu besitzen und erfindet fortan neue Meldungen. Die Bedeutung des Radios zeigt sich in »Jakob der Lügner« also durch dessen Abwesenheit. 

Diese Abwesenheit steht zugleich als Bild für einen »Kommunikationsentzug«[1], der Teil des nationalsozialistischen Entrechtungsprozesses gegenüber Jüdinnen und Juden war und als Bestandteil der Shoah verstanden werden kann. Denn ab 1938 mussten schrittweise Telefone und Radios abgegeben werden. Schließlich durften auch keine Zeitungen und Zeitschriften mehr gelesen werden – auch der Brieftransport wurde untersagt. Inge Deutschkron, die die Shoah versteckt in Berlin überleben konnte, erinnerte sich später als Zeitzeugin, dass den wenigen noch nicht deportierten jüdischen Menschen Anfang der 1940er Jahre nur noch der »Mundfunk«[2] als Kommunikationsmedium blieb. Die direkte Weitergabe wesentlicher Nachrichten von Tür zu Tür war demnach die einzige Austauschmöglichkeit, auch um sich selbst über die gegen Jüdinnen und Juden verhängten Maßnahmen zu informieren. Diese Restriktionen schürten vor allem Ängste, eine Situation, die sich in den nationalsozialistischen Ghettos und Lagern dramatisch zuspitzte, da es dort noch schwieriger war, Nachrichten aus der Außenwelt zu erhalten.

»Jakob der Lügner« greift diese Situation auf, erzählt aber von einem Mundfunk, der Trost und Hoffnung spendet. Insofern ist es mit Blick auf den weiteren Verlauf der deutschen und europäischen Geschichte nicht überraschend, dass Jurek Beckers Erzählung im Gegensatz zu echten Erinnerungen, wie denen von Inge Deutschkron, als Fiktion angelegt ist. Dennoch erzählt »Jakob der Lügner« auch etwas über das Leben des Autors, denn Jurek Becker war selbst Jude und Überlebender der Shoah. 

Das Hörspiel findet einen außerordentlich konzentrierten Zugang zu seinem Thema. Im Fokus stehen die zwischenmenschlichen Beziehungen der im Ghetto eingesperrten Menschen, ihre Hoffnungen und Ängste. Auf die Darstellung drastischer Gewalt wird dagegen weitgehend verzichtet. Stattdessen setzen Autor und Dramaturgie gezielt auf den Einsatz von Humor. Wenn Jakob und sein alter Freund Kowalski sich etwa an frühere Zeiten erinnern, sind sie trotz Überwachung durch die Deutschen nicht um gegenseitige Sticheleien oder um Ausreden verlegen. Damit erinnert »Jakob der Lügner« heute auch an spätere tragikomische Auseinandersetzungen mit der Shoah wie »Das Leben ist schön« von Roberto Benigni. 

Ausschnitt aus »Jakob der Lügner« von von Jurek Becker, Rundfunk der DDR 1973

Jurek Beckers ursprünglich als Drehbuch für einen Film entwickelter Stoff wurde nach einigen Schwierigkeiten bei der Realisation zunächst als Roman veröffentlicht (1969), dann im Rundfunk der DDR als Hörspiel (1973) und schließlich doch noch als Spielfilm (1974) umgesetzt. Der von der DEFA und dem Fernsehen der DDR koproduzierte Film wurde für einen Oscar nominiert, und auch das Buch ist weltberühmt. Das Hörspiel hingegen ist relativ unbekannt geblieben. Es entstand auf Grundlage des Romans, wurde aber für die Radiofassung von Wolfgang Beck bearbeitet. Regie führte Werner Grunow, der zu den bekanntesten Rundfunkregisseuren in der DDR gehörte und nach der Wende bei Deutschlandradio aktiv war. Es wurde noch vor Fertigstellung des Spielfilms produziert und am 19. April 1973 – und damit am 30. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto – erstmals im Rundfunk der DDR gesendet. Damit diente die Erstsendung in der DDR auch der Erinnerung an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, ein wiederholt von offizieller Seite aufgegriffenes Thema, auch weil man so einer offiziellen Auseinandersetzung mit der eigenen Schuldfrage ausweichen konnte. Mit dem Fokus auf einen von Empathie und Menschlichkeit getragenen, ausschließlich individuellen Widerstandsakt ist »Jakob der Lügner« auch in diesem Zusammenhang eine Besonderheit. 

Götz Lachwitz

Zur Person Jurek Becker

Jurek Becker (1937 – 1997) wurde Ende der 1930er Jahre als Jerzy Becker im polnischen Lodz geboren, wo die Familie bald im Ghetto interniert und schließlich ins KZ deportiert wurde. Sein genaues Geburtsdatum ist unbekannt. Seine Mutter starb an den Folgen der Haft im KZ. Becker überlebte Ghetto und Lager – genauso wie sein Vater. Nach dem Krieg lebten sie in der DDR. Dort war Becker zunächst vor allem als Drehbuchautor aktiv, bevor er als Romanautor große Erfolge feierte – und zwar in beiden Teilen Deutschlands. Ende der 1970er-Jahre zog er in Folge der Proteste gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns nach West-Berlin, wohl auch, um einer eigenen Ausbürgerung zuvorzukommen. Durch ein Visum war es ihm aber weiterhin möglich, zu Besuchen in den Osten zu reisen. Zu Beckers späteren Erfolgen gehört vor allem die ab 1986 in der ARD ausgestrahlte Fernsehserie »Liebling Kreuzberg«, zu der er die Drehbücher verfasste.

Literatur-Tipps:

  • Becker, Jurek (2003) [1969]: Jakob der Lügner. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Becker, Jurek (2007): Mein Vater, die Deutschen und ich. Aufsätze, Vorträge, Interviews. Herausgegeben von Christine Becker. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Deutschkron, Inge (1992): Ich trug den gelben Stern. München: dtv.


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