Foto: DRA/Jörg Wyrschowy
Die Angst geht um
»Straßenmann« von Hermann Kesser (1930)
Schauplatz der von Hermann Kesser im Jahr 1926 veröffentlichten Novelle »Straßenmann« und der späteren gleichnamigen Hörspieldichtung ist Berlin zur Zeit der Weimarer Republik. In der Novelle schildert der Autor die Inflation und die daraus resultierende soziale Lage folgendermaßen: »Es steht verzweifelt um Geld und Arbeit, da der Wert des Geldes von Tag zu Tag sinkt, und Lohn für geleistete Arbeit nichtswürdig zerrinnt.«[1] Kesser charakterisiert die Hauptfigur Fritz Straßenmann als einen von denen, »die dem Hunger und der Kälte zu begegnen verstehen und dank besonderer Geschäftstalente auch unter ungünstigen Umständen zu Wohlstand und Wärme emporsteigen.«[2] Der anfangs für seine Umgebung unsichtbare Straßenmann, ein Spekulant und Schieber, wird Opfer eines Einbruchs und rückt durch dieses Vorkommnis unfreiwillig in den Mittelpunkt des Interesses der übrigen Hausbewohner. Plötzlich ist der Profiteur des Elends selbst Zielscheibe der Verhältnisse.
»Unsicherheit und Angst ist auf den Gesichtern der Menschen, die Existenzangst geht wie noch nie in der Stadt um. Wissen sie, was Existenzangst ist? Ich glaube, verehrte Hörer und Hörerinnen, sie wissen es wohl alle: die Existenzangst ist überall – in allen Häusern, in allen Etagen, in allen Zimmern, in allen Betten [...] Die Not läuft am fließenden Band, am fließenden Band bewegen sich die Arbeitslosen und Stellensuchenden, jeder eine Zahl...«[3]
Der Diebstahl wird von Fassadenkletterern verübt – eine kriminelle Praxis, die Hermann Kesser wenige Jahre zuvor in Berlin selbst beobachtet hatte und die er in einem Artikel in »Der Deutsche Rundfunk« als Ausgangspunkt seiner Novelle beschrieben hat.[4] Überhaupt spielen in »Straßenmann« die Erfahrungen des Lebens in der Großstadt eine zentrale Rolle. Durch den gezielten, wenn auch sparsamen Einsatz von Autolärm und anderen Geräuschen, wie einer raunenden Menschenmenge, spiegeln sie sich auch akustisch in der Umsetzung des Hörspiels wider. Darin ähnelt das Werk auch dem im gleichen Jahr produzierten Hörspiel »Die Geschichte von Franz Biberkopf«, das nach Vorlage von Alfred Döblins Roman »Berlin Alexanderplatz« umgesetzt wurde.
Die literarische Reflexion des eigenen und ihn umgebenden Lebens war zentrales Programm des Schreibens von Hermann Kesser, wie er in dem Artikel »Der aktuelle Rundfunk und das aktuelle Rundfunk-Drama« ausführte: »Sicher ist, daß ich in meine Produktion und meine Lebenspläne das Hördrama ebenso aufgenommen habe, wie das Drama und wie die Epik. Weil ich davon überzeugt bin, daß diese Aufgabe meiner Mission entspricht, die ich folgendermaßen definieren möchte: In Worten zu gestalten, was auf mich zukommt; zeitlebens gewissenhaft und unbeirrbar zu sehen und zu hören; eine Stimme zu sein, und das zu sagen, was die Welt denkt, fühlt – und will. Die Welt ist nach meiner Anschauung nicht das Werk der Dichter. Die Welt ist Materie. Und die Dichtung ist Materie, wenn sie wiedergibt, was die Welt als Wahrheit enthält. Rundfunkdichtung ist, wie ich glaube, reine Wortmaterialisation in einem weiten und bewußten sozialen Sinn.«[5]
Der Bezug seines Schreibens auf die sozialen Lebensumstände war auch Resultat seiner politischen Haltung. In einem Interview aus dem Jahr 1976 beschrieb seine Frau Marlene Kesser diese als leidenschaftlichen Einsatz »für die menschliche Freiheit, menschliche Würde, für die vom Schicksal und in der Gesellschaft Zurückgestellten [...] Er richtete sich vor allem gegen die Ausbeutung der Menschen von Seiten gewisser kapitalistischer Kreise.«[6] In »Straßenmann« wollte Kesser vor allem »die verhängnisvolle Auswirkung der Geldgier« zeigen.
Das Hörspiel »Straßenmann« wurde am 26. März 1930 in der Berliner Funk-Stunde ausgestrahlt. Regie führte Alfred Braun, der auch die Autorenstimme interpretierte. Die Reaktionen waren gemischt – kritisiert als »haltloses Durcheinander«[7], gefeiert als »Musterbeispiel für die Schilderungskunst am Mikrophon«.[8]1931 wurde »Straßenmann« von der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft mit dem Ehrenpreis für Hörspiele ausgezeichnet.
Dorothee Fischer
Literatur-Tipps:
- Evelein, Johannes F. (2000): Hermann Kesser. In: Spalek, John M. / Feilchenfeldt, Konrad / Hawrylchak , Sandra H. (Hrsg.), Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Band 3. USA : Teil 1. Bern: K. G. Saur, S. 300–312.
- Strzolka, Rainer (2004): Das Hörspiel als moralische Anstalt: Hermann Kessers »Straßenmann«. In: Ders., Abriss zur Geschichte des Hörspiels in der Weimarer Republik. Hannover: Koechert, S. 330–333.