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Von der Romanbestenliste in den Äther
»Die Geschichte vom Franz Biberkopf« von Alfred Döblin (1930)
Neben Musik und Journalismus hielt in den 1920er Jahren auch die Literatur Einzug in den Rundfunk. Viele Literaten blickten auf das Radio als Massenmedium herab, aber Alfred Döblin sah im »akustischen Medium, de[m] eigentlichen Mutterboden jeder Literatur«[1] eine Chance: Durch die gesprochene Sprache könne Literatur wieder lebendiger und weniger elitär werden, und so ein größeres Publikum erreichen. Er dachte dabei an eine »spezifische volkstümliche Rundfunkkunst, eine besondere große, interessante Kunstgattung«[2] – das Hörspiel. Und Döblin beließ es nicht bei der Theorie, sondern versuchte, seine Vision selbst zu verwirklichen: Er adaptierte den eigenen Erfolgsroman »Berlin Alexanderplatz« (1929) für das Radio.
Die literarische Vorlage erzählt die Geschichte von Franz Biberkopf, einem auf Abwege geratenen Lohnarbeiter, der nach vier Jahren Haft versucht, ein anständiges Leben zu beginnen. In den Wirren des großstädtischen (Ganoven-)Milieus scheitert er – mit gravierenden Auswirkungen auf sein Leben und das seiner neuen Freundin Mieze.
Heute gilt »Berlin Alexanderplatz« als eines der wichtigsten deutschsprachigen Werke der literarischen Moderne: die derbe Berliner Schnauze im Kontrast zu stilistisch kunstvoller Sprache, das Thema des Großstadtlebens aus der Sicht einfacher Menschen, die innovative Erzähltechnik der Montage mit eingebetteten Textpassagen wie Zeitungsschlagzeilen oder Werbeslogans. Mit diesen Mitteln verhandelt der Text nicht nur das Schicksal von Franz Biberkopf, sondern komponiert ein buntes und vielstimmiges Panorama der ihn umgebenden Stadt, insbesondere des Alexanderplatzes und seiner Besucher und Besucherinnen.
Da der Roman mehrere hundert Seiten umfasst, bedurfte es wesentlicher Kürzungen, um auf ein Hörspiel der Länge von etwa 1 ¼ Stunden zu kommen. Döblin entschied daher, sich auf die wesentlichen Ereignisse des Handlungsstrangs um den Protagonisten zu konzentrieren. Entsprechend bekam das Hörspiel auch den veränderten Titel »Die Geschichte vom Franz Biberkopf«, den Untertitel des Romans. Die Bearbeitung wurde in den Hörfunkzeitschriften mit Spannung erwartet:
»Die literarische Abteilung bietet in dieser Woche einen besonders interessanten Versuch: eine Funkeinrichtung von Doeblins ›Alexanderplatz‹, dem sensationellen deutschen Romanerfolg der vorigen Saison.«[3]
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Neben »Hörbarkeit, Kürze, Prägnanz, Einfachheit« gehörte es für Döblin auch zu einem »wirklichen« Hörspiel, den Dialog um lyrische und erzählerische Elemente zu erweitern.[4] Außerdem war es ihm wichtig, die verschiedenen akustischen Möglichkeiten des Radios zu nutzen, also auch Musik und Geräusche. Das Ergebnis bei »Die Geschichte vom Franz Biberkopf« ist ein experimentelles Klanggewebe aus Dialogen, inneren Monologen und Kommentaren zweier Sprecher sowie Großstadtgeräuschen, minimalistisch eingesetzter Instrumentalmusik und Gesangspassagen. Schon der Beginn führt in diese komplexe Struktur ein, wenn Franz Biberkopf auf dem lärmenden Alexanderplatz seine Ware in breitem Berlinerisch anbietet und der Erzähler in gewichtigem Ton dessen Vorgeschichte einstreut (vgl. Hörzitat):
Besonders deutlich wird Döblins Experimentierfreudigkeit, als sich in einer Schlüsselszene zwei Autos miteinander unterhalten: Franz wird ohne seine Kenntnis in ein Verbrechen mithineingezogen, und Opel und Fiat kommentieren das Geschehen distanziert (vgl. Hörzitat):
Noch bis in die 1980er Jahre ging man davon aus, dass das Stück wie angekündigt am 30. September 1930 im Radio gespielt worden war. Zwei Wochen nach dem ursprünglich angekündigten Sendungstermin wurde jedoch säuerlich im Bereich »Kritik« in der Programmzeitschrift »Der Deutsche Rundfunk« kommentiert:
»Seit einem halben Jahre wird die Hörspielbearbeitung des Alexanderplatz-Romans von Doeblin angekündigt. Endlich war es für Montag angesetzt. Dann auf Dienstag verschoben. […] Und vier Stunden vor der Aufführung wurde sie abgesagt. Es ist nicht das erstemal, daß so etwas in Berlin geschieht. Wenn den Hörern immer wieder gepredigt wird, sie sollen nicht wahllos hören, sondern nach ihren Interessen aussuchen – dann klingt diese an sich berechtigte Mahnung nach solchen Abänderungen wie ein Witz aus einem guten Funkkabarett.«[5]
Warum wurde die Aufführung abgesagt? In der Forschung[6] findet sich hierzu der Hinweis, dass gerade zwei Wochen zuvor die NSDAP bei der Reichstagswahl einen massiven Wahlerfolg erlebt hatte: Die Zahl der Abgeordneten erhöhte sich von zwölf auf 107. Es ist anzunehmen, dass man befürchtete, der Text Döblins sei für die aufgeheizte Stimmung zu provokant (tatsächlich sollten in der NS-Diktatur fast alle Texte des jüdischen Dichters verboten werden). Diese These lässt sich auch stützen mit einem Vergleich der Aufnahme zum ursprünglichen Hörspielmanuskript, das in den 1970ern gefunden wurde.[7] Die Aufnahme weist bereits Kürzungen politisch potenziell anstößiger Stellen auf, sodass davon auszugehen ist, dass das Stück durchaus als brisant wahrgenommen wurde.
Glücklicherweise blieb dennoch der für die Ursendung vorgesehene Schallplattensatz bestehend aus 20 Schellackplatten erhalten – als »Versuchsaufnahme« gekennzeichnet und heute im Deutschen Rundfunkarchiv aufbewahrt. Wiedergefunden und erstmals ausgestrahlt wurde diese Fassung Döblins in den späten 1950er Jahren, ergänzt durch drei Bearbeitungen westdeutscher Sender zwischen 1958 und 1962. Darauf folgte auch eine Neufassung des DDR-Rundfunks. Dort lief das Hörspiel am 11. August 1963 im Rahmen einer Reihe von »Hörspiele[n] der früheren Zeit«.[8] Inhaltlich wurde das Stück als »historisch wahres Spiegelbild seiner Zeit« gedeutet, insofern es die »immer mehr aus den Fugen geratende bürgerliche Ordnung mit ihren zahlreichen deklassierenden Abstürzen in Verzweiflung, Not und Verbrechen« darstelle.[9] Die Geschichte des Franz Biberkopf – in dieser Variante auch wieder unter dem Originaltitel des Romans, dem allgemeineren »Berlin Alexanderplatz« – wurde in die antibürgerliche Ideologie der DDR eingeordnet.
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Textlich bewegt sich diese Hörspielfassung nah am Original. Insgesamt fällt jedoch auf, dass an den experimentellen Elementen gespart wurde; beispielsweise sind die miteinander sprechenden Autos weggefallen, wie auch dem bearbeiteten Skript zu entnehmen ist (vgl. Abbildung). Damit wurde das Hörspiel näher an die zeitgenössischen Hörgewohnheiten gebracht, als es die Weimarer Fassung war.
Mareike Schulze
In der ARD Hörspieldatenbank:
Literatur-Tipps:
- Döblin, Alfred: Literatur und Rundfunk. In: Schriften zur Ästhetik, Politik und Literatur. Frankfurt am Main: Fischer 2013. S. 252–261.
- --. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Hörspiel nach dem Roman »Berlin Alexanderplatz«. Hrsg. u. Nachw.: Heinz Schwitzke. Stuttgart: Reclam 1976.
- Hörburger, Christian: Rotstift und Wiedergutmachung – Die lange Geschichte eines Hörspiels: Alfred Döblins »Franz Biberkopf«. In: Funk-Korrespondenz, 26, Jg. 54 (2007).